Nach den jüngsten Corona-Beratungen von Bund und Ländern ist klar:

Hessen hält weiter am Präsenzunterricht fest. Doch Betroffene fordern lautstark einen Strategiewechsel.

Ein Überblick.

Der Corona-Winterfahrplan für Hessen steht, in fast allen Bereichen gelten ab Dezember schärfere Regeln. Nicht aber an den Schulen: Die bleiben offen, das Land hält am Präsenzunterricht fest. Lediglich in Gebieten mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 200 soll ab der 8. Klasse der Wechselunterricht eingeführt werden - und auch dann nicht verpflichtend. Dabei mehren sich die Stimmen derer, die den Wechsel zur Regel machen wollen. Wer dafür ist und wer dagegen:

  • Die Politik
  • Die Schüler
  • Die Lehrer
  • Die Eltern
  • Die Schulen
  • Die Gesundheitsexperten


Die Politik

Für Ministerpräsident Volker Bouffier und Kultusminister Alexander Lorz (beide CDU) hat Präsenzunterricht weiterhin höchste Priorität, sie halten Schulen nicht für Treiber der Pandemie. Homeschooling oder Wechselunterricht soll die Ausnahme bleiben und nur dort stattfinden, wo es zu Ausbrüchen kommt oder der Inzidenzwert von 200 überschritten wird. Auch dann müsse jede Schule selbst entscheiden, eine einheitliche Regelung soll es nicht geben. Die Opposition plädiert hingegen fast geschlossen für den Wechselunterricht.

Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD), in dessen Stadt die Inzidenz aktuell weit über dem von Bouffier ins Spiel gebrachten Wert von 200 liegt, ist ebenfalls Verfechter des Präsenzunterrichts. "Mir ist und bleibt wichtig, dass die Kinder in die Schule gehen", sagte Feldmann am Mittwoch im hr-fernsehen. Viele Schüler und Schülerinnen hätten zuhause nicht die nötige Ausstattung für Homeschooling, zudem seien viele Lehrkräfte nicht dafür ausgebildet. Zudem käme Homeschooling einem "Generalstreik von oben" gleich, da viele Eltern zuhause bleiben müssten und nicht mehr arbeiten könnten. Wie Feldmann die Vorgabe, ab einer Inzidenz von 200 den Wechselunterricht einzuführen, umsetzen will, ließ er offen.

Frankfurt will nach Auskunft von Bildungsdezernentin Sylvia Weber (SPD) an Berufsschulen das Wechselmodell mit halbierten Klassen und teilweisen Unterricht zu Hause einführen. Dort gebe es mehr Infektionen als an anderen Schulformen. Zudem kämen dort Heranwachsende aus verschiedenen Kommunen zusammen. 


Die Schüler

Volle Schulbusse, volle Klassen: Immer mehr Schülerinnen und Schüler protestieren lautstark gegen die Bedingungen an hessischen Schulen. In Frankfurt droht der Stadtschüler*innenrat zusammen mit Schülervertretungen mehrerer Schulen ab Montag sogar mit Streik, sollte nicht zum Wechselmodell übergegangen werden. "Werden Sie unsere Forderung nicht ernst nehmen, sehen wir uns gezwungen, in einen Schulstreik zu treten", heißt es in einem Schreiben von Dienstagabend. "Wir haben Angst, selbst infiziert zu werden und unkontrolliert Mitschüler*innen und Familie anzustecken."

Auch im Raum Kassel haben sich Schüler und Schülerinnen zusammengetan. Die Initiative "Unverantwortlich" fordert etwa, bereits ab einer Inzidenz von 50 die Klassen zu teilen. "Man mutet Schüler*innen tagtäglich zu, in überfüllten, schlecht belüfteten Klassenräumen mit mehreren Dutzend Haushalten auf engstem Raum zur Schule zu gehen", heißt es in einer Mitteilung. 


Die Lehrer

Die Lehrergewerkschaft GEW fordert landesweit die Einführung des Wechselunterrichts. Nur so könne das Abstandsgebot eingehalten und das Infektionsrisiko an Schulen gesenkt werden, sagte GEW-Landesvorsitzende Birgit Koch. Das Festhalten am Präsenzunterricht seitens des Landes komme einer "Verletzung der Fürsorgepflicht" gegenüber Lehrkräften gleich.

"Der Wechselunterricht bietet den Lehrkräften die Möglichkeit, täglich mit den Schülern und Schülerinnen in Kontakt zu treten", sagte die Bundesvorsitzende Marlis Tepe im hr-fernsehen. "Andernfalls fahren wir sehenden Auges auf einen Lockdown zu, und dann müssen wir die Schüler und Schülerinnen wieder ganz aus der Hand geben."

Der Verband Bildung und Erziehung (VBE) kritisiert das Fehlen klarer Vorgaben. Die neuen Beschlüsse seien "das Gegenteil einer klaren Linie, das ist reinstes Wischiwaschi", sagte Landesvorsitzender Stefan Wesselmann am Donnerstag. Dem Ziel, den Präsenzunterricht aufrechtzuerhalten, werde alles untergeordnet, "vor allem der Gesundheitsschutz". 


 Die Eltern

Seit Wochen kämpft der Landeselternbeirat für die Einführung des Wechselunterrichts. "Wir brauchen jetzt ein klares Bekenntnis des Kultusministeriums und somit auch der Schulen, dass Wechselunterricht der Standard sein soll", sagte der Landesvorsitzende Korhan Ekinci am Mittwoch dem hr. Präsenzunterricht sollte die Ausnahme sein und nur dort stattfinden, wo genug Platz ist, um die Klassen vor Ort aufteilen zu können. 


Weitere Informationen

Wie funktioniert Wechselunterricht?

Bei Wechselunterricht, auch als Hybridmodell oder A-B-Modell bezeichnet, werden die Schulklassen aufgeteilt. Eine Hälfte wird in der Schule unterrichtet, die andere Hälfte lernt zuhause. Die Gruppen tauschen wochenweise. So werden Kontakte reduziert und Abstände können besser eingehalten werden. 

Die Schulen

In einer gemeinsamen Erklärung haben Interessensverbände von Schulleitungen aller Schulformen den Übergang zum Wechselunterricht gefordert. "Um flächendeckende Schulschließungen zu verhindern, müssten die Schulen zum Wechselmodell zwischen Präsenzunterricht und Distanzunterricht übergehen", heißt es in der Mitteilung vom vergangenen Dienstag. Die Verbände fordern, dass "der Gesundheitsschutz an den Schulen vor die pauschalisierte politische Zielsetzung eines unbedingt durchzuhaltenden Präsenzunterrichts" gestellt werden müsse.

Nicola Gudat, Schulleiterin an der Anne-Frank-Realschule in Frankfurt, plädierte im hr-fernsehen ebenfalls für die Abkehr vom reinen Präsenzunterricht. Eine Maskenpflicht an den Schulen reiche nicht aus. "Kaum wird das Schulgelände verlassen, geht die Maske runter, und dann wird sich doch begrüßt", beschreibt Gudat ihre Beobachtungen. "Das sind halt Jugendliche und Kinder." An ihrer Schule habe es bereits 20 Fälle gegeben, entgegen der Empfehlung des Gesundheitsamts habe sie die betroffenen Klassen in Quarantäne geschickt. Gudat wünscht sich eine einheitliche Regelung für alle Schulen. 

Die Gesundheitsexperten

Die Gesundheitsämter stützen mehrheitlich die Auffassung der Landesregierung, vorneweg das Amt in Frankfurt, wo die Infektionszahlen im Landesvergleich weiterhin sehr hoch sind. Sein Leiter René Gottschalk bekräftigt bei jeder Gelegenheit, dass Schulen keine Infektionstreiber seien. Wenn alle eine Mund-Nasen-Bedeckung trügen, sei eine Übertragung des Coronavirus unwahrscheinlich.

Deswegen beschränke sich das Frankfurter Gesundheitsamt in der Regel darauf, nur die infizierten Schüler oder Lehrer nach Hause zu schicken, nicht aber die Mitschüler oder Kollegen. Viele Ämter handhaben das so, nicht aber alle: "Wenn ein positiver Fall auftaucht, schicken wir alle in Quarantäne", sagte etwa die Leiterin des Gesundheitsamts in Wiesbaden, Kaschlin Butt, dem hr.

Der Frankfurter Virologe Martin Stürmer ist ein Befürworter des Wechselmodells in Schulen. "Da würde man sich weitere Maßnahmen wünschen, auch Homeschooling oder Wechselunterricht", sagte der Mediziner im Interview mit hessenschau.de. Auch die Enge in vollen Schulbussen müsse entzerrt werden. Ein "massives Ausbruchsgeschehen an Schulen" habe Stürmer nicht feststellen können, allerdings seien Kinder ab 12 so ansteckend wie Erwachsene. Deshalb solle man zumindest an weiterführenden Schulen eine Verkleinerung der Klassen anstreben.

 

 

Quelle:  Sendung: hr-fernsehen, hessenschau extra, 25.11.2020, 20.45 Uhr, Veröffentlicht am 26.11.20 um 10:52 Uhr, hessenschau.de/Julian Moering, Hanna Immich